1968
war
die Mauer hoch genug, um die Arbeiter und Bauern Ostberlins vor Atombombenangriffen
der Westberliner und vor den eigenen dummen Gedanken zu schützen,
so dass mein Vater wieder guten Gewissens ins Ländle zurückkehren
konnte.
Durch die
Mauer wohnten Ost- und West-Deutsche nicht mehr in einem gemeinsamen Haus,
sondern waren nur noch Nachbarn. Und je höher der Zaun zwischen ihren
Grundstücken wurde, desto anonymer wurde das Leben. Die Erwachsenen,
die sich früher noch gegrüßt hatten, gingen jetzt ihrer
Wege und auch die Kinder spielten natürlich nicht mehr miteinander.
Mein Vater
fand das nicht so schön und fuhr daher jedes Jahr zu Pfingsten mit
einer Gruppe West-Jugendlicher nach Berlin, um sich mit Ost-Jugendlichen
zu treffen. Seit 1978 war ich mit dabei. Mein Vater bereitete uns intensiv
auf den Exkurs vor, z. B. durch Erarbeitung von Strategien, um drüben
nicht aufzufallen. Die konspirativen Treffen mit den konterrevolutionären
Kräften fanden statt im Gemeindehaus der Samariterkirchengemeinde
in Berlin Friedrichshain. Drahtzieher dort war der überaus sympathische
und engagierte Pfarrer Rainer Eppelmann.
Ost-West-Begegnung
in der Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain.
Um ihn herum
eine kleine Schaar von mutigen und engagierten
jungen Menschen, die sich trauten, öffentlich "Schwerter zu
Pflugscharen"-Abzeichen zu tragen, obwohl sie dafür immer wieder
verhaftet und eingesperrt wurden.
Die Kommunikation
mit dem Klassenfeind verlief erstaunlich friedlich. Am Ende jeden Tages
mußten wir wieder pünktlich bis 24 Uhr am Grenzübergang
Friedrichstraße zurück nach West-Berlin. "Tränenpalast"
nannten die Berliner die Abfertigungshalle dort. Wir wissen warum.
Das "Ost-West-Begegnungs-Seminar",
wie die Veranstaltung offiziell hieß, fand Pfingsten 1989 noch genauso
statt wie die Jahre zuvor. Jedenfalls wagte niemand zu hoffen, dass wir
alle noch in diesem Jahr aus dem Alptraum erwachen würden.
Doch schon
der Sommer sah eine Flüchtlingswelle über Ungarn und die Tschechoslowakei,
die Situation eskalierte und auf einmal trauten sich drüben auch
"normale" Menschen, den Mund aufzumachen.
Von Rainer
erfuhren wir von der beabsichtigten Gründung einer neuen Partei,
des "demokratischen Aufbruchs."
Dann ging
alles ganz schnell. Am 9. November 1989 passierte etwas, was in die Geschichte
eingehen sollte: Die DDR öffnete mehr oder weniger "aus Versehen"
ihre Grenzen. "Niemand hat die Absicht, die Mauer zu öffnen"
- gesagt hat so einen Satz diesmal keiner, aber erwartet hatte es auch
wieder niemand.
Als der DDR
dieser neuerliche Lapsus passierte, war ich wieder nicht da. Nicht mal
in Deutschland. Ich war in Paris, beruflich. So bekam ich das alles nur
nebenbei mit.
In meinem
Tagebuch notierte ich eine Woche später:
"Durch die Medien erfuhr ich von der Öffnung der Grenzen
der DDR. Einige Male hatte ich auch Gelegenheit, die Berichterstattung
im französischen Fernsehen, vor allem FR 3 zu verfolgen. Ich neige
ja überhaupt nicht zu Gefühlsausbrüchen, aber ich muß
gestehen, daß ich noch nie so bewegt war wie in diesen Tagen. Ich
erinnerte mich an die vielen Berlin-Freizeiten, die traurigen Szenen des
Abschieds am Bahnhof Friedrichstraße, meine endlosen Mauerspaziergänge,
mein Referat darüber in der Schule, meine Erinnerungen an meine eigene
Berliner Zeit und die Tatsache, daß ich nur wegen dieser Mauer überhaupt
Berliner bin. Jedenfalls war ich sehr, sehr glücklich darüber.
Ich kaufte mir mehrere Zeitungen gleichzeitig und als die "Libération"
als Titelseite nur ein Foto von Hunderten auf der Mauer sitzenden Leuten
abdruckte, konnte ich es nicht lassen, es triumphierend den anderen auf
dem Messestand zu zeigen. Am Abend dieses Tages (Samstag) waren wir mit
Jutta Böhme, der Verantwortlichen von Mitsubishi direkt neben dem
Hotel indonesisch essen. Wir stießen auf die Öffnung der Grenzen
an."
Aus Versehen also war die Mauer wieder offen und das Experiment Sozialismus
eingestellt. Postkarten waren im Umlauf mit Bildern von Marx mit dem Text:
"Nichts für ungut, war nur so eine Idee ..."
Berlin 1990 - Der Ausverkauf der DDR hat begonnen
Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich das Unfaßbare mit eigenen
Augen sehen konnte. Das war an Pfingsten 1990. Mittlerweile war die Mauer
Gegenstand von Souvenirjägern. Überall hämmerte und klopfte
es. Wie in einem Steinbruch.
Davon abgesehen, war es absolut faszinierend zu erleben, wie man innerhalb
kürzester Zeit von Kreuzberg zum Alex gehen konnte. Früher hatte
das Stunden gedauert, wegen der großen Umwege und der Grenzkontrollen
am Bahnhof Friedrichstraße. Berlin hatte plötzlich eine neue
Geografie.
Berlin 1990
ermöglichte auf einmal ganz neue Perspektiven. Perspektiven nicht
nur beim Fotografieren der Mauer, sondern für die Zukunft Deutschlands.
Von der Euphorie
der Grenzöffnung war damals - nur ein halbes Jahr später - jedoch
nichts mehr zu spüren.
Die Stimmung
beim letzten Ost-West-Begegnungs-Treffen, Pfingsten 1990, war denn auch
ernüchternd. Etwa so, wie Menschen, die tagelang in einem Aufzug
festsitzen und sich dabei näher kommen, nach ihrer "Befreiung"
alle erst mal nach Hause wollen. "Wir besuchen uns mal", verspricht
man sich, aber Pustekuchen. Wie schnell der Mensch vergessen kann!
Schnell vergessen
haben die Leute aus dem Osten ihre eigentlichen Helden, die Bürgerrechtler,
die schon den Mund aufgemacht haben, als man dafür noch Opfer bringen
mußte. Nicht die "Wir sind das Volk"-Rufer, sondern die
mit den "Schwerter zu Pflugscharen"-Aufnähern.
Statt sich
ihrer Friedensbewegung zu erinnern, feiert sich das ach so mutige Volk,
das 1989 in der Masse (500.000 am 4. November 1989 in Berlin auf dem Alexanderplatz)
nur so stark werden konnte, weil ein anderer mutiger Mann, Michael Gorbatschow,
in Moskau neue Wege gegangen war.
Aber auch
die Westdeutschen hatten vergessen. Die Wiedervereinigung war doch eigentlich
schon "abgeschrieben".
Wenige Monate nach dem Fall der Mauer sagte eine gute Freundin zu mir,
es ginge ihr so langsam auf die Nerven, daß so viele Ossis rüberkämen;
man hätte kaum noch eine Chance, eine Wohnung zu finden, man könnte
direkt ausländerfeindlich werden.
Wahrscheinlich
war die Zeit der Trennung einfach zu lang gewesen. War Anfang der 60er-Jahre
der Begriff "Freiheit" noch ein Wert für sich, so war er
1990 für viele ein Synonym für "Geld, Reisen, Autos, Videorecorder"
geworden, also für persönlichen grenzenlosen Wohlstand.
Heute, noch
einmal 10 Jahre später, sind die vereinten Deutschen überwiegend
verzogen, genußsüchtig und egoistisch - unfähig, über
die politische Dimension von "Freiheit" überhaupt nachzudenken.
Und weit
und breit kein Kennedy, der sie auffordert, ...
"...
den Blick über die Gefahren des Heute hinweg auf die Hoffnung des
Morgen zu richten, über die Freiheit dieser Stadt Berlin und über
die Freiheit Ihres Landes hinweg auf den Vormarsch der Freiheit überall
in der Welt, über die Mauer hinweg auf den Tag des Friedens mit Gerechtigkeit."
("So
let me ask you, as I close, to lift your eyes beyond the dangers of today,
to the hopes of tomorrow, beyond the freedom merely of this city of Berlin,
or your country of Germany, to the advance of freedom everywhere, beyond
the wall to the day of peace with justice, beyond yourselves and ourselves
to all mankind.")
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