Erinnerungen von Franz-Gerhard von Aichberger

1961 - 1962 Lagerpfarrer
im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde


Anfang September, also gerade mal zwei Wochen nach dem Bau der Mauer, trat ich meinen Dienst als Lagerpfarrer in Marienfelde an. Das Lager war völlig überfüllt. Schließlich waren 1961 bis zum 13. August über 125.000 Menschen nach Westberlin geflüchtet.

Im zentralen Notaufnahmelager wurden die Flüchtlinge von den alliierten Geheimdiensten und von dem deutschen Verfassungsschutz überprüft, dann folgte das Notaufnahmeverfahren und die Verteilung auf die westlichen Bundesländer.

Die vielen Verhöre waren für die meist erschöpften Flüchtlinge ein ungeheurer Stress. Darum kam der Flüchtlingsseelsorge eine wichtige Aufgabe zu: Einfach „zweckfrei” zuzuhören. Als jüngster Lagerpfarrer war mir die Betreuung der jugendlichen Flüchtlinge zugeteilt. Für sie veranstaltete ich im benachbarten "Foyer Cimade", einer Einrichtung des französischen Hilfswerks, Spiel- und Gesprächsabende. So kam es schnell zu Kontakten.

Beteiligt war ich aber auch bei den Sprechstunden, in denen sich Neuankömmlinge beraten lassen oder auch nur ihren Frust von der Seele reden konnten.

Der Bau der Mauer war von manchen geahnt oder befürchtet worden, jedoch kam er dann doch - bewußt in die Ferienzeit gelegt - für die meisten überraschend. So erfolgten in den ersten Wochen viele Fluchten ganz spontan.

Da die Grenze an vielen Stellen zunächst nur aus Drahtzäunen bestand, genügte in unbeaufsichtigten Momenten eine Drahtschere - und die Flucht gelang. Leider haben die sensationsgierigen Medienberichte solche Fluchtmöglichkeiten schnell verraten und damit vereitelt.

Aus diesen ersten Wochen sind mir viele Einzelschicksale gut erinnerlich. Da ist die junge Frau, die völlig verkratzt vor mir saß und noch gar nicht begriff, dass sie„im Westen” war. Freunde hatten ihr eine Schneise in den Zaun geschnitten. Ohne sich umzusehen, raste sie über die Grenze. Da eine Wochenschau diese Szene filmte, ist sie noch heute iin vielen Erinnerungssendungen zu sehen.

Unvergessen der junge Baggerfahrer, der in einem spontanen Impuls den Zaun niederwalzte, als sein Bewacher gerade mal wegsah. In der Hand hatte er beim Gespräch mit mir noch sein Vesperbrot, das ihm seine Mutter am Morgen mitgegeben hatte, nicht ahnend, dass sie ihn für viele Jahre nur aus der Ferne würde sehen können.

Je mehr die Mauer wuchs, umso schwieriger wurden die Fluchten. Etliche flohen durch die Kanalisation. Dabei geschahen wunderbare Dinge. So hob ein Flüchtling vorsichtig einen Ausstiegsdeckel, um in bestem Sächsisch zu hören „do missense noch 100 Meter weiter gehn!" - ein Volksarmist hatte sich menschlich gezeigt. Doch das waren Ausnahmen.

Einige Flüchtlinge wählten den Weg durch Havel und Spree, bekanntlich gab es dabei erste Tote. Der nie klar dokumentierte Schießbefehl tat seine Wirkung. Natürlich wurden Ereignisse wie der Tod des Peter Fechter im Lager heiß diskutiert. Bewegende Gespräche habe ich da erlebt.

Schlimm war die Weihnachtszeit 1961. Manchem wurde erst richtig klar, wie folgenreich seine Flucht war. Manche Flüchtlinge gingen am Heiligen Abend an die Grenze, um ihre Angehörigen aus der Ferne zu grüssen. Das war kaum mehr möglich. Längst hatten Sichtblenden die Sicht versperrt. Die Grenze wurde immer unüberwindlicher. Nur noch einzelne Fluchten gelangen. So konnte ein Lokomotivführer einen ganzen Personenzug aufs Interzonengleis umleiten und bei Staaken Westberlin erreichen. Mit dabei war der erste Oboist der Komischen Oper Berlin mit seiner Familie. Er spielte dann in unserem Weihnachtsgottesdienst.

Abenteuerlich auch die Fluchten auf Kohleschiffen oder beim Tauchen unter Schleusen. Jüngst hat der Film über den „Tunnel 29” wieder an die bewegte Zeit erinnert.

Das alles ist nun lange her, vierzig Jahre. Aber für diejenigen, die damals in Marienfelde beieinander waren, ist die Zeit unvergesslich und die Wiedervereinigung sowie der Fall der Mauer vor zehn Jahren wie ein Wunder.

Franz-Gerhard von Aichberger
aufgeschrieben am 9. August 2001