Nicht die erste Mauer in Deutschland

 

Sonntag, 12. August 1962

Berlin Spandau, Melanchton-Kirche
Predigt von Pfarrer Franz-Gerhard von Aichberger
zum 1. Jahrestag des Mauerbaus

Römer 8, 17


Liebe Gemeinde!

Als Pfarrer möchte man manchmal gern wissen, was die Menschen, die so vor einem sitzen, die Bekannten und die Unbekannten, gerade denken, mit welchen Fragen und Nöten oder auch mit welcher Freude sie in das Gotteshaus kommen.

Man möchte das wissen, nicht aus Neugier, sondern einfach deswegen, weil man sie doch nicht allgemein, gleichsam pauschal ansprechen möchte, sondern in ihrer konkreten Situation, in ihrer Freude oder in ihrem Schmerz ihnen Gottes Wort weitersagen möchte.

Heute glaube ich zu wissen, was Sie, die ich alle gar nicht kenne, bewegt. Heute können wir sogar sagen, was diejenigen in Berlin bewegt, die jetzt erst aus dem Bett steigen, um sich die "Welt am Sonntag" oder sonst ein Blatt zu kaufen, die nicht hier sind, - wir wissen, was in diesen Tagen für uns alle Thema und Problem Numero 1 ist:

Wir alle denken in diesen Tagen daran, daß es nun schon ein Jahr her ist, daß unsere Stadt durch die Mauer in zwei Teile gespalten wurde, oder man muß besser sagen, vollends gespalten wurde. Wir denken an all die traurigen Folgen dieser Spaltung. Wir denken an die Lieben in Ostberlin und in der Zone und wir wissen, sie denken an uns.

Und in all diesen Gedanken schwingen Fragen mit, Fragen an die Vergangenheit und die Gegenwart, und Fragen an die Zukunft. Und voll, prall voll, quälend voll von solchen Fragen sind wir hierher gekommen, Sie und ich. Und während viele unserer Mitbürger heute und morgen besonders gründlich die Zeitungen und Radiomeldungen verfolgen, in der Hoffnung, vielleicht doch eine Antwort zu bekommen, auf das "WARUM?" und auf das "Was können wir tun?", treten wir vor Gott unseren Vater im Himmel, und wir können nicht anders, wir müssen auch ihn fragen, warum. Und wir sollen gerade ihn fragen, wie es mit uns weitergehen soll. Wird er uns Antwort geben? Hören wir noch einmal das Wort des Apostels, das uns für diesen Tag gegeben ist:

Gott sagt uns: "Ihr dürft meine Kinder sein. Seid meine Kinder und Ihr werdet leben, lebt auf eigene Faust und das Ende wird Tod sein."

Ist das eine Antwort? Und ob das eine Antwort ist! In diesem Angebot steckt ja eine Frage, ja eine ganze Reihe von Fragen:

Wer hat denn die Mauer letztlich gebaut? Ist sie nicht Abbild der Trümmer des letzen Krieges? Sie ist ja auch nicht die erste Mauer in Deutschland. Wir denken an die Mauern und Zäune der KZs, wir denken an die unsichtbaren Mauern, mit denen man vor Jahren die Juden in unserem Land umgeben hat. "Ihr seid Gottes Kinder". Waren wir's damals, als wir diese Mauern hinnahmen? Wenn wir Gott fragen, so fragt er uns! Wir sollten uns nicht daran ärgern. Denn diese Fragen wollen uns nicht zu Boden werfen, sie wollen uns aufhelfen, wollen uns helfen, das wieder ernst zu nehmen, was Gott das Wichtigste ist: Daß wir seine Kinder sein sollen. Und mit dieser Botschaft, daß wir seine Kinder sein sollen, gibt er uns auch eine Antwort auf unsere Frage "Wie geht es weiter?".

Ihr dürft meine Kinder sein, wenn Ihr auf mich vertraut und nach meinem Gebot lebt, dann werdet Ihr leben. Ist das eine Antwort? Ist's nicht die beste? Aber haben wir diese Antwort wirklich im Herzen oder nur im Kopf?

Nehmen Sie den Vers "Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin, sie haben's kein Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben?" War das nur ein frommes Lied oder war das wirklich ein Vorsatz, der es verdient, eingelöst zu werden?

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selber! Rücken wir in unseren Gemeinden enger zusammen? Oder geht eben alles seinen Gang? Und behalten wir die Verbindung zu den Brüdern in der Zone? Und wissen wir, daß auch die Notleidenden in der weiten Welt unsere Brüder sind?
Die in Südafrika und Südamerika?

Wir sind traurig hierher gekommen, froh sollen wir von hier weggehen, weil Gott uns auf all unsere Fragen anwortet: "Ihr seid meine Kinder!" Und weil er uns noch immer Gelegenheit gibt, als seine Kinder zu leben. Es ist wahr, wir können hier vieles nicht mehr, aber das Wichtigste können wir noch: Liebe üben. Und in dem allen dürfen wir gewiß sein, daß Gott uns noch nicht aufgegeben hat, er hat uns zu seinen Kinden berufen, und obwohl wir ihn immer wieder enttäuscht haben, hat er uns doch noch immer sein Erbe aufbehalten: Die Heimat in seinem Reich.

So wollen wir froh und getrost dem Apostel nachsprechen mit Dank und Freude:

Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben, und Miterben Christi, wenn anders wir mit leiden, auf daß wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.